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Wo junge Demente Hilfe finden

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.03.2022

Mit „MyCareNet“ legt ein hessisches Modellprojekt den Fokus auf Jungbetroffene von Demenz. Die Schwierigkeiten sind größer, wenn sie noch im Berufsleben stehen und sogar minderjährige Kinder haben.


Tanja Dubas (links) und Maren Ewald von der Anlaufstelle für präsenile Demenz der Hans und Ilse Breuer-Stiftung | Foto: Hans und Ilse Breuer-Stiftung
Tanja Dubas (links) und Maren Ewald von der Anlaufstelle für präsenile Demenz der Hans und Ilse Breuer-Stiftung | Foto: Hans und Ilse Breuer-Stiftung

Martina Wolff de Carrasco ist 57 Jahre alt, ihr Ehemann 66. Seit einigen Jahren ist er schon dement. Damit ist er einer von etwa 24.000 Menschen in Deutschland, die diese Diagnose vor dem 66. Lebensjahr erhalten – sogenannte „Jungbetroffene“. Ein hessisches Modellprojekt will diesen Menschen und ihren Angehörigen das Leben erleichtern. Mit dem Titel „MyCareNet“ hat die Hans und Ilse Breuer-Stiftung ein Begleitprogramm für die Familien entwickelt. Begonnen hat das Modellprojekt am 1. April 2021. „Seitdem ist viel passiert“, sagt Tanja Dubas, stellvertretende Leiterin des Demenzzentrums Statthaus in
Offenbach. Immer mehr Menschen nähmen das Angebot in Anspruch, auch solche außerhalb der Region.


„Ich habe sehr lange nach Unterstützung gesucht, nach so etwas wie einer Gruppe für Angehörige“, sagt Wolff de Carrasco. Diese gebe es zwar, aber die Unterschiede zu den
anderen Angehörigen seien zu groß gewesen. „Bei vielen waren es ältere Angehörige, 80, 90 Jahre alt.“ Auch das sei schlimm, keine Frage. Aber sie brauche Menschen, die nachfühlen können, wie es ist, wenn der Betroffene jünger ist, mitten im Leben steht und dann die Krankheit bekommt. Schließlich sei sie auf das Demenzzentrum gestoßen und habe Kontakt aufgenommen. Das Hilfsangebot schließe eine Lücke. Und es mache sichtbar, was vielen Leuten nicht klar sei: dass nicht nur alte Menschen von Demenz betroffen sein können.

 

Vor wenigen Tagen hat Tanja Dubas den Anruf einer Frau bekommen, deren Ehemann sogar erst 51 Jahre alt ist und dement. „Bei jüngeren Menschen sind das ganz besondere
Schicksale. Sie stehen mitten im Leben, haben Jobs, Partner, teilweise noch minderjährige Kinder“, sagt Dubas. Ziel des Projekts sei daher, die Betroffenen und ihre Angehörigen zu
stärken, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und die Normalität bestmöglichst aufrechtzuerhalten.

 

Für Manuela Wolff de Carrasco ist das besonders wichtig. Ihrem Mann solle nicht das Gefühl vermittelt werden, krank zu sein. Er gehe jetzt jede Woche zu einem Treffen ins Zentrum. Sie begleitet ihn – und arbeitet währenddessen in der Cafeteria. „Er fühlt sich in der Gruppe sehr wohl“, sagt Wolff de Carrasco. Zumindest nehme sie das so wahr. Sie schätzt den integrativen Ansatz des Zentrums. „Es gibt altersübergreifende Gruppentreffen, und trotzdem ist die Betreuung auf den Einzelnen zugeschnitten.“ Und für die Betroffenen werde eine Art von Selbständigkeit gewahrt, indem nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden werde.

 

„Das Programm dient außerdem der Vernetzung“, sagt Dubas. Obwohl sie und ihr Mann noch nicht lange Teil des Programms seien, habe Wolff de Carrasco schon Angebote bekommen, wie sie und ihre Kinder über das Projekt Kontakt zu anderen betroffenen Angehörigen aufnehmen könnten. Auch Kontakte zu Experten und Organisationen könne das Demenzzentrum vermitteln, so Dubas.

 

Mittlerweile ist mit www.demenz-vor-65.de eine Website mit umfangreichen Informationen zum Thema entstanden, auf der es Hilfe und Beratung für Betroffene gibt. „MyCareNet“ wird
außerdem vom Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft wissenschaftlich begleitet. Dabei soll evaluiert und festgestellt werden, ob das Projekt seine Ziele erreicht. Finanziell gefördert wird es vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration sowie den Landesverbänden der Pflegekassen in Hessen, zunächst bis zum 31. März 2024. Dubas hofft aber, dass mit „MyCareNet“ gerade etwas aufgebaut wird, das langfristig Bestand hat – über die geplanten drei Jahre hinaus.

 

In der Cafeteria des Statthauses sitzen nach ihrem Gruppentreffen am Vormittag vier ältere Frauen und ein Mann. Nach dem Mittagessen wird das Kartenspiel Uno ausgepackt. Die Stimmung ist ausgelassen. „Hier ist irgendwie immer heile Welt“, sagt Conni Zeul, die mit am Tisch sitzt. Ihre Mutter war von Demenz betroffen und vor ihrem Tod regelmäßig im
Statthaus. Jetzt hilft sie selbst dort mit. Für ihre Mutter sei das Zentrum ein Segen gewesen.

 

Auch Ahmatnawid sitzt in der Runde, der junge Mann macht ein Jahrespraktikum im Statthaus. „Es ist wirklich eine tolle Erfahrung“, sagt er. Er könne hier viel lernen. Im Spiel hat er allerdings Pech: Er muss vier Karten ziehen. Alle lachen. Eine der Frauen am Tisch sagt leise: „Ach, was für ein schöner Tag.“


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