Digitales Engagement auf dem Land – Chancen und Risiken

Bank für Sozialwirtschaft (2023): Digitales Engagement auf dem Land – Chancen und Risiken. In: BFS-Trendinfo, Ausgabe 07/23. 


Zwar entdecken immer mehr städtische Bewohner*innen die Vorzüge des Landlebens für sich. Geht es jedoch um ehrenamtliches Engagement, werden ländliche Räume offenbar noch immer unterschätzt. Davon zeugt nicht zuletzt eine geringe Zahl an Forschungsinitiativen, insbesondere zu digitalen Formen des Engagements. Doch jetzt ist es dem „Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft der Evangelischen Hochschule Darmstadt“ (IZGS) gelungen, spezifische Merkmale von digitalem Engagement herauszuarbeiten. Im Rahmen des Projekts „DIGEL“ wurde deutlich, dass es zwischen Stadt und Land markante Unterschiede gibt, die es zu beachten gilt.

 

DIGEL – das steht für „Digitales Engagement auf dem Land – Eine qualitative Bestandsaufnahme individueller und gesellschaftspolitischer Gelingensbedingungen für innovative Engagementformen im ländlichen Raum“. Die Finanzierung des Projekts hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) im Rahmen des Bundesprogramms „Ländliche Entwicklung und regionale Wertschöpfung (BULE Plus)“ bereitgestellt.  

 

Voraussichtlich im Juli 2023 wird auf der Projekt-Website ein ausführlicher Studienbericht erscheinen. Wichtige Erkenntnisse haben Projektleiter Professor Dr. Michael Vilain und seine Mitstreiter*innen jedoch vorab in einem Aufsatz für den „eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft“ veröffentlicht.  

 

Sie stellen zunächst klar, dass ehrenamtliches Engagement häufiger in ländlichen als in städtischen Räumen stattfindet - ungeachtet zahlreicher Medienberichte über „trendige Stadtprojekte, Social oder Voluntary Entrepreneurs und neue soziale Bewegungen“. Der ländliche Raum macht nicht nur 90 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands aus. Auch engagieren sich dort mehr Menschen ehrenamtlich (41,6 Prozent) als in der Stadt (38,8 Prozent).  

 

Anders als in den Städten dienen ehrenamtliche Angebote auf dem Land häufiger dazu, die Grundversorgung und somit die Lebensqualität sicherzustellen. Oft entstehen sie aus Mangel an (staatlichen bzw. professionellen) Alternativen, allerdings mit dem Vorteil, keine Konkurrenz fürchten zu müssen. In ländlichen Gemeinden mit einer großen Entfernung zur nächsten größeren Stadt spielt die örtliche Gemeinschaft der Bürger*innen zudem eine herausragende Rolle.  

 

Bevor sie mit ihrer Untersuchung zu digitalem Engagement beginnen konnten, standen Michael Vilain und sein Team zunächst vor der Herausforderung, dass eine einheitliche Definition bisher nicht existiert. Daher verständigte man sich darauf, Engagement immer dann als digital zu bezeichnen, wenn „wesentliche Anteile des Engagements digital erfolgen und/oder das Engagement ohne die Nutzung digitaler Medien so nicht sinnvoll oder möglich wäre.“ Differenziert wurde zwischen

  • rein digitalem Engagement, z.B. ein Blog oder eine App.
  • analogem Engagement mit notwendigen digitalen Elementen (hybrides Engagement), z.B. eine digitale Kompetenzvermittlung.
  • analogem Engagement mit digitalen Hilfsmitteln, z.B. ein Lesepaten-Angebot als Videokonferenz.

Insgesamt wertete das Forschungsteam 370 Engagementbeispiele aus. Dabei zeigte sich, dass in der Praxis in erster Linie Mischformen aus analogen und digitalen Engagement-Anteilen (hybrides Engagement) dominieren.

 

Soziale Bezüge angemessen berücksichtigen

Bei der Wahl der technischen Mittel sind Stadt und Land nahezu identisch. „Einen Messenger-Dienst wie WhatsApp nutzen fast alle“, sagt Michael Vilain. Aber die Rahmenbedingungen und die Sozialstruktur unterscheiden sich voneinander. Das verdeutlicht der Projektleiter am Beispiel der evangelischen Melanchthongemeinde Griesheim. Dort hatte eine Gruppe junger Leute während der Pandemie damit begonnen, den örtlichen Gottesdienst zu streamen. Das Angebot wurde so gut angenommen, dass es sich dauerhaft etablieren konnte. Vilain nennt dafür folgende Gründe: „Es gibt einen unmittelbaren Bezug zum Geschehen, denn der Pfarrer ist den Zuschauer*innen an den Bildschirmen persönlich bekannt. Außerdem kommen Gemeindemitglieder zu Wort.“ Dies vermittle – trotz der räumlichen Distanz – ein familiäres Gefühl (warm glow). „Diese sozialen Bezüge angemessen zu integrieren, ist entscheidend für die Akzeptanz und somit für den Erfolg digitaler Engagement-Formen, gerade in ländlichen Regionen“, ist Vilain überzeugt. Überhaupt habe sich Corona als Katalysator der Digitalisierung auf dem Land erwiesen und zu neuen Formaten geführt, wie z.B. die Organisation eines Musikerfests als Webradio bzw. über youtube belegt.

 

Veränderte Aktionsreichweite

Ein weiterer Effekt – Durch Digitalisierung erweitert sich die Aktionsreichweite des Engagements. Außerdem ist es zeit- und ortsunabhängig möglich. Das kann dazu beitragen, die Verbindung zwischen städtischen und ländlichen Milieus zu vertiefen. Michael Vilain spricht hier von „Import-Engagement“, das er im Projekt „Regiocrowd“ auf vorbildliche Weise verwirklicht sieht.  

Dieses Engagmentportal für Naturschutzprojekte in Sachsen und Sachsen-Anhalt richtet sich an Naturfreunde, Studierende, junge Leute, Familien sowie Unternehmen und bietet vielfältige Aktivitäten an. Zur Auswahl stehen unter anderem Baumpflanzaktionen, Sensen- und Mähkurse sowie die Pflege von Bergwiesen im Osterzgebirge. „Durch Teilnahme an den Aktionen entwickeln Städter*innen ein verbessertes Verständnis für den ländlichen Raum“, sagt Michael Vilain. Zusätzlich setzen die Initiator*innen auf das Crowdfunding, mit dem Gelder für bestimmte Naturschutzaktionen gesammelt werden. Aus Sicht des Projektleiters ist diese Kombination folgerichtig: „Wenn Menschen eine Region persönlich kennengelernt haben, sind sie eher bereit, dafür zu spenden.“  

 

Auch die Risiken beachten

Trotz all dieser Chancen sollte man die Risiken einer zunehmenden Digitalisierung nicht aus den Augen verlieren, geben die Mitarbeiter*innen des DIGEL-Projekts zu bedenken. Nicht zu leugnen ist etwa die Gefahr, dass einige Personen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden, wenn ihnen notwendige Kenntnisse sowie der Zugang zu digitalen Medien fehlen.  

 

Eine weiteres mögliches Problem - digitale Angebote können sich zu einer ernsthaften Konkurrenz für das unmittelbare und unverzichtbare Engagement vor Ort entwickeln und den Druck auf Organisationen wie die Freiwillige Feuerwehr erhöhen. Denn die wachsende Tendenz, sich lediglich punktuell für etwas einzusetzen, ohne feste Mitgliedschaft, kann sich durch die Digitalisierung verstärken und eine Aushöhlung etablierter Engagement-Strukturen begünstigen.  

 

Das Resümee lautet somit: Digitales Engagement bietet erhebliche Potenziale für die ländlichen Räumen, vorausgesetzt, es erweist sich als kompatibel und nutzbringend für bestehende soziale und infrastrukturelle Rahmenbedingungen. Hybride Formen des Engagements haben daher die größte Aussicht auf Erfolg.  

 

Vilain, Michael; Heuberger, Matthias; Schulz, Carmen; Meyer, Tobias (2023): Wie die Digitalisierung das Engagement in ländlichen Räumen verändert. In: eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft, Ausgabe 03/2023 vom 23.03.2023. Bonn: Stiftung Mitarbeit.